Hüter meiner Worte sein

Denn sie werden nicht meine Wirklichkeit, sie sind meine Wirklichkeit!

Wenn ich spreche, handle ich unmittelbar, schaffe ich Wirklichkeit denn Handlungen immer haben Folgen. Deutlich wird das in extremen Fällen; doch manchmal kommt das still und leise daher, so, dass man es leicht überhören kann oder einfach nicht wichtig nimmt; eine abfällige Bemerkung, ein frauenfeindlicher Witz, ein rassistischer Kommentar, eine abwertende Etikettierung. Doch gerade solche subtile Dinge schleichen sich in die Gehirne, suchen Verbündete im Geist.

Es sind kleine Flammen, die oft von selbst erlöschen, aber auch immer wieder einen Schwelbrand oder ein Verkokeln in den Gedanken der Menschen auslösen können – und manchmal ein Feuer, wenn es auf einen Strohballen in einem gewaltbereiten Geist trifft. Zu hoffen, dass das Feuer nicht um sich greift ist jedoch nur eine Hoffnung, aber keine Realität, nicht wirklich.

Das „Dritte Reich“ begann mit Zündeln durch Hetz- und Hassreden, erreichte seinen Höhepunkt in einem begeisterten kollektivem „Ja“ auf die Frage, ob die Menschen den totalen Krieg wollten. Ein kleines Feuer hat einen verheerenden Brand ausgelöst. Erst waren es nur Worte, doch aus diesen Worten sind letztlich Taten geworden, grausame Taten. Wenige sind sich bewusst, wie schnell das passieren kann.

Ich muss mir bewusst sein, dass das, was ich denke und sage, meine Wirklichkeit ist. Doch damit nicht genug, ich muss mir auch bewusst sein, dass ich damit andere erreiche (sonst könnte ich ja schweigen) und auf welchen gedanklichen Resonanzboden eine abfällige Bemerkung treffen kann.

Also hüte ich mich vor Abwertungen, vor Sarkasmus und flapsigen Bemerkungen. Jede Bewertung nimmt eine spezifischen Perspektive ein, dessen muss ich mir bewusst sein.  Und zumindest darin liegt meine Verantwortung, mich keiner abwertenden Sprache zu bedienen.

Interessant ist ja, dass bei dem Begriff „Performanz“ schnell an eine künstlerische Darbietung gedacht wird, doch selten ist bewusst, dass in der Linguistik „Performanz“ für das Sprechen steht. Da beginnt die Wirklichkeitsgestaltung, die Performanz des Einzelnen.

Das ist das eine. Das andere ist, dass ich Hüter meiner Worte nicht sein wollen kann, denn entweder ich bin es oder eben nicht. Ich spreche, wie ich bin; nur wenn ich mich in meinem Denken von Grund auf geändert habe, spreche ich anders. Zwar kann ich mich beherrschen, einen anderen nicht „Arschl…“ zu nennen, doch das bedeutet, dass er für mich eben eines ist, ich es nur hinter der Maske der Konvention verberge und ich meine Gedanken über ihn mit dem Mantel des Schweigens zu tarnen suche.

Mir also vorzunehmen, Hüter meiner Worte zu sein, genügt nicht, ich muss es sein. Eine interessante Parallele dazu findet sich für mich in dem Buch „Der Luzifer Effekt“. Der Psychologe Philip Zimbardo ist überzeugt: In bestimmten Situationen werden wir alle zu Gewalttätern und Mördern. Eine Strategie, wie dem entgegengewirkt werden kann, zeigt er jedoch in seinem Buch für mein Empfinden nicht wirklich auf.

Dass jeder in bestimmten Situationen zu einem Gewalttäter oder Mörder werden kann, das sehe ich auch so, nur mit einer Ausnahme: Es gab schon immer Menschen, die nicht mit der allgemeinen Meinung mitgeschwommen sind und beispielsweise im sogenannten Dritten Reich Verfolgen geholfen haben: 0,16 %. Die sind von Interesse! Als Sohn eines Täters weiß ich, dass ich erst einmal wie er war. Als ich das erkannte, war die Frage: Wie kann ich anderes sein?

Also will ich wissen, was die 0,16% anders gemacht haben. Was hat diese Menschen ausgezeichnet? Ganz einfach: Sie dachten und waren anders als die Mehrheit. Doch anders sein, das muss man sein, man kann es weder lernen noch abrufen. Ein wichtiger Aspekt im Kampf gegen heutigen Antisemitismus und andere Formen der Feindlichkeit und des Hasses ist fraglos die Auseinandersetzung und Bewusstmachung der Vergangenheit. Das schafft erst einmal Bewusstheit.

Doch es ist nur der erste Schritt, der zweite ist mir bewusst zu werden, wie ich selbst im Innersten bin. Wenn ich das als für mich als wirklich falsch oder fraglich erkenne, und zwar aus Einsicht, nicht aufgrund einer Moral- oder Ethikvorstellungen, werde ich (hoffentlich) so denken und sein, wie es richtig ist zu denken und zu sein. Nicht sofort, aber mit der Zeit. Ich brauche dafür Bewusstheit für mich – und zwar konsequent immer.

Ich bin der  Überzeugung, dass im Grunde seines Herzens jeder Mensch gut ist. Nur ist das oft und in der Gesellschaft regelmäßig verdeckt und verschüttet.

Ich muss in jedem Moment bereit sein aufmerksam und achtsam wahrzunehmen, was ich denke und wie ich mich verhalte und wenn etwas nicht Korrektes bemerke, meine Synapsen gerade zu rücken – wieder und wieder. Ich darf mich dabei nicht beirren lassen, wie ein Kleinkind, das Laufen lernen will, sich aber nicht davon abbringen lässt, nur weil es ihm wieder und wieder misslingt.

Denn es hat ein Vorbild: Die Erwachsenen. Doch wenn ich erwachsen bin, muss ich in der Regel ohne Vorbild auskommen. Wie gesagt, damals waren es 0,16%. Also muss ich mir dieses Vorbild selbst sein, weil ich es kaum finden werde., zu gering ist die Chance, einem zu begegnen, statt dessen begegne ich 99,84%, die anderes denken. Denn viel hat sich scheinbar nicht geändert in den Köpfen der Menschen.

Vielleicht gelingt es dadurch, dass ich selbst ein Vorbild bin? Mir also nichts mehr „durchgehen“ lasse? Wahrheit lässt sich weder lehren noch in Worte fassen. Wahrheit offenbart sich mir nur in der Erkenntnis.

Wie sagt doch der Kirchenlehrer Augustinus von Hippo (354-430): In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst. Und genau das will ich tun (können). Das bedeutet für mich erst einmal eine Veränderung meiner Haltung – was nicht so einfach ist.

Der Widerstand gegenüber der Veränderung will mich in meiner Komfortzone festhalten. Mich zu verändern beinhaltet immer auch, meine Routine und meine innere Welt zu stören. Ebenso muss ich das Neue willkommen heißen und mich selbst herausfordern. Dies kann sicherlich angsteinflößend sein. Doch ich muss bedenken, dass es immer einen Weg nach vorn gibt.

“Eine kleine Veränderung am heutigen Tag
führt dich in eine radikal andere Zukunft.”

Richard Bach

Hüter meiner Worte zu sein ist der Weg zur Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit ist eine vom Individuum sowohl gedanklich als auch emotional verantwortete innere Haltung, die das Streben nach Wahrheit beinhaltet. Wahrhaftigkeit ist keine Eigenschaft von Aussagen, sondern bringt das Verhältnis eines Menschen zur Wahrheit oder Falschheit von Aussagen zum Ausdruck.

Nicht nur Kinder suchen Wahrheit. Nur sie können die damit einhergehenden Emotionen nicht so,gut wegdrücken wie Erwachsene und so tun, als sei alles in Ordnung. Lebe ich nicht wahrhaftig, verunsichert meine ganzen Existenz. Darum geht es. Das ist meine Verantwortung mir selbst gegenüber.