Beziehung

Nichts existiert jemals ganz allein. Alles steht in Beziehung zu allem. Das sagen die Chan-Menschen schon lange, doch erst seit ich weiß, dass das auch die Quantenphysiker genauso sehen, ist es für mich keine Philosophie mehr, sondern Realität und ich rede nicht mehr darüber, sondern versuche es im eigenen Leben zu erkennen und zu erfahren.

In dem Video „Heideggers Baumübung von Gerd Scobel fand ich ein Bild, das das ganze Thema perfekt auf den Punkt bringt:

Es ist vielleicht das, was Ludwig Wittgenstein mit dem Satz „Wir wollen etwas verstehen, was schon offen vor unseren Augen liegt.“ auszudrücken suchte. Denn das scheinen wir – in irgendeinem Sinne – tatsächlich nicht zu verstehen. Wie also können wir es verstehen? Doch was liegt da offen vor unseren Augen?

Wie gesagt, Philosophie hilft mir da erst einmal wenig, sondern wissenschaftliche Erkenntnis. Über die Wissenschaft kann ich letztlich selbst erfahren oder erkennen, was ist. Bei einem Baum ist es relativ offensichtlich, dass er ein Teil meiner Lunge ist, sowie auch ich ein Teil von ihm bin, braucht er doch das Kohlendioxyd, dass ich ausatme.

Das ist die „nützliche“ Sicht, die Frage ist jedoch, ob es darüber nicht hinaus geht und auch gehen muss. So wie ich dem Baum begegne, begegne ich auch anderen Menschen. Auch hier ist die gegenseitige Abhängigkeit leicht zu erkennen, existieren wir doch nur, weil wir zusammen existieren. Sehe ich den anderen ausschließlich unter dem Kosten-Nutzen-Aspekt, führt das zu einem Verdrängungswettbewerb, denn auf Dauer keiner überleben wird. Aktuell erleben wir es ja schon.

Es ist das Eine zu erkennen, dass ich die Gruppe oder den Stamm brauche, um (über-) leben zu können, das Andere ist zu sehen, dass „mein“ Stamm die anderen Stämme (oder Nationen) braucht, um existieren zu können. Das ist nur nicht unmittelbar wahrnehmbar, aber theoretisch kann ich es erfassen – und dann auch als Realität erleben.

Ich denke, das ist, was Wittgenstein mit seinem Gedanken ausdrücken wollte. Das ist das Offensichtliche, das ich nicht sehen, aber denken kann. Wenn ich es erst einmal denken kann, kann ich es auch unmittelbar wahrnehmen und erleben – aber ich kann es nicht gleichzeitig denken und erfahren. Außer natürlich, ich befinde mich im Modus des Denkens durch NichtDenken.

Aber zurück zu dem oder den Anderen. Es geht nicht darum, etwas über den Anderen zu denken, sondern ihn zu sehen, ohne über ihn nachzudenken. Was ich nur dann kann, wenn ich Informationen (aber keine Geschichten!) von ihm über ihn bekomme und die nicht interpretiere. Gestern Abend sagte ich zu meiner Frau, dass ich tieftraurig sei. Weshalb konnte ich nicht sagen, auch wenn ich es offensichtlich tief in mir selbst wusste.

Ich konnte es jedoch nicht an die Oberfläche bringen und wir spekulierten auch nicht darüber. Vielleicht war es das Empfinden dieser Gedanken, die ich gerade aufschreibe, weil ich das eben noch nicht so erleben kann, wie ich möchte, aber weiß, dass es so ist? Könnte so sein.

Für mich bedeutet das, dass ich nur dann in Beziehung mit einem anderen sein kann, wenn wir den anderen an den eigenen Empfindungen teilhaben lassen. Diese „Informationen“ sind kein explizites Wissen und auch keine Gefühle oder Emotionen, sondern Empfindungen, die mit dem NichtDenken einher gehen. Und ich und der oder die andere müssen uns dieser Empfindungen überhaupt bewusst sein, ohne sie unter einem Schwall an Emotionen oder Worten zu verbergen. Was ich tue, wenn ich es als zu schmerzhaft empfinde, sie zuzulassen.

Dabei ist die Wahrheit den Menschen zumutbar. Sagt jedenfalls Ingeborg Bachmann. Und erst recht ist meine Wahrheit meinem bewussten Wissen zumutbar, schließlich lebe ich sie ja, denn sie ist ja in mir. Lasse ich zu, dass ich meine Wahrheit empfinde, merke ich auch sehr schnell, was davon nur eine Folge von Gedachtem ist und nicht der Wirklichkeit entspricht, wie sie wirklich ist.

Dazu  brauche ich die Begegnung mit dem Anderen. So wie ich nur leben kann, wenn ich Sauerstoff und Kohlendioxid mit dem Baum tausche, kann ich auch nur leben, wenn ich in Beziehung zu einem anderen bin und wir aus unseren Empfindungen kein Geheimnis mehr machen.

Doch das ist nur der erste Schritt, jedenfalls sagt mir das eine innere Stimme. Ganz leise. Hinter dem Nutzen, den ein Baum für mich hat – und ich für ihn – taucht etwas anderes auf, eine in Worten nicht auszudrückende Empfindung. Es ist ein Gefühl, als würden mir die Blumen und der Baum zuzwinkern und mich angrinsen, die ich über den Bildschirm hinweg wahrnehmen kann, während ich das hier schreibe.

Die Schwierigkeit liegt für mein Empfinden darin meine Empfindungen nicht mit Worten und Gedanken zu verdecken, andererseits mein Wissen so zu nutzen, dass ich den vorhandenen zivilisatorischen Schutt wegräumen kann, der meine Empfindungen regelrecht verhindert.